Der
Bahnhof des Lebens
Ein alter Mann saß am Bahnhof des Lebens. Immer wieder
fuhren Züge ein und aus. Jeder Zug hatte ein anderes Ziel – ein
einzigartiges Ziel. Ein Ziel konnte immer nur von einem Zug
angefahren werden. Hat man sein Zug verpasst, konnte man sein
angepeiltes Ziel nicht mehr erreichen. Nur wenn man Glück hatte,
konnte man den Zug noch durch andere Züge einholen.
Aus den Zügen, die einfuhren, stiegen immer wieder
Leute ein und aus. Niemand wusste genau, wo sein Zug hinführte, es
ließ sich nur erahnen. Man sagte, dass wenn man seinen Traum und
sein Ziel verfolgte, dann würde der Zug, in dem man saß, der
Richtige sein und das Ziel würde perfekt sein.
Der alte Mann war schon in vielen Zügen gewesen, doch
irgendwann war der alte Mann stehen geblieben und verweilte seit dem
am Bahnhof und schaute den Zügen zu beim Ein- und Ausfahren und
beobachtete die vielen, verschiedenen Menschen, die aus den Zügen
stiegen, am Bahnhof verweilten und in andere Züge stiegen. Viele
seiner Freunde waren schon am Ziel oder auch in anderen Zügen. Der
alte Mann war allein.
Grade fuhr der nächste Zug ein und eine Schar von
Menschen kam aus dem Zug heraus. Einige blieben sitzen und fuhren
weiter. Von den Leuten, die aus dem Zug ausgestiegen waren, liefen
viele schnell über den Bahnhof und suchten sich einen neuen Zug.
Einige hatten es nicht so eilig, weil ihr Zug erst etwas später
kommen würde.
Ein junger Mann setzte sich neben den alten Mann und
schaute sich das Spektakel selber an. Er wollte nachvollziehen, warum
der alte Mann hier saß. Viele erzählten von dem alten Mann und auch
der junge Mann hatte von dem alten Mann erzählt bekommen. Sein Ziel
war es gewesen, den alten Mann zu treffen und was er danach tun
würde, wusste er noch nicht.
„Guten Tag.“, begann der junge Mann.
Der alte Mann schaute den Jungen an und musterte ihn. Er
war erfreut mal wieder mit jemanden sprechen zu können. Meist mieden
die Menschen ihn, weil sie Angst hatten, einen Zug zu verpassen. Der
alte Mann erwiderte: „Guten Tag. Was kann ich für dich tun?“
„Sagen Sie, wie lange sitzen Sie hier schon?“,
fragte der Junge.
Der Alte lachte kurz und antwortete: „Nach vielen
Jahren habe ich aufgehört zu zählen. Ich sitze bestimmt schon etwa
fünfzehn oder zwanzig Jahre lang hier.“
„Und seit dem sitzen Sie hier und beobachten das
Geschehen? Bereuen Sie denn nicht, dass Sie nicht auf einen Zug
aufgesprungen sind? Sie könnten schon längst am Ziel sein.“,
sprach der Junge.
„Ich glaube, dass dies mein Ziel ist. Natürlich habe
ich es oft bereut, dass ich nicht auf einen Zug aufgesprungen bin. Da
wäre zum Beispiel der Zug, der vor langer Zeit hier eingetroffen
ist. Ich war noch relativ jung und saß hier herum, weil ich nicht
wusste, was ich als nächstes machen sollte. Eines Tages setzte sich
eine junge Dame zu mir. Sie war eine nette Frau und ich verstand mich
gut mit ihr. Wir unterhielten uns lange und blieben lange zusammen
sitzen. Doch irgendwann bemerkte sie, dass sie stehen geblieben war.
Sie redete viel davon, dass dies doch nicht ihr Ziel sein könnte und
dass dies doch auch nicht mein Ziel sein könnte. Ich mochte meine
neugewonnene Freiheit. Ich mochte dieses ungezwungene Dasein. Ich
musste kein Zug bekommen und brauchte mir keine Sorgen um die Zukunft
machen. Es war so gewesen, als würde die Zeit für mich still stehen
und als würde ich nur noch ein Beobachter sein. Doch die nette Frau
mochte diesen Stillstand nicht. Eines Morgens war sie nicht mehr da.
Sie hatte mir einen Zettel hinterlassen auf dem stand: 'Es tut mir
Leid, aber ich kann nicht stehen bleiben – niemand kann das. Dies
ist nicht mein Ziel und dein Ziel ist es auch nicht.' Zuerst war ich
sehr traurig und wollte ihr hinterher kommen, doch dann blieb ich
alleine hier sitzen, weil ich niemanden mehr hatte. Nirgendwo mehr –
außer an diesem Ort – fühlte ich mich richtig. Dieser Bahnhof gab
mir Geborgenheit. Ich mochte es, den Menschen zuzuschauen und
manchmal mit ihnen zu sprechen. Bis zu dem Zeitpunkt fanden sie mich
noch nicht verrückt.“
„Man nennt Sie verrückt?“
„Ich glaube, du weißt dies besser als ich. Sie
meinten, dass dies kein richtiges Leben sei, weil ich nichts
erreichen würde. Irgendwann sagten sie, ich sei verbittert, einsam,
hätte kein richtiges Leben und würde nicht wissen, was das Leben
bedeutet. Aber wer kennt die Bedeutung des Lebens? Es geht nur vor
und nicht zurück. Du kannst mit einem Zug nur irgendwo hinfahren, du
kannst aber nicht zurückfahren. Wo wird das Ende sein? Gibt es
überhaupt ein Ende?“
„Ich denke schon, dass es ein Ende gibt. Sollte nicht
jeder irgendwo ankommen?“
„Natürlich. Aber wenn es ein Ende gibt und jeder dies
erreichen muss, werde ich jemals mein Ende finden? Schließlich bin
ich stehen geblieben. Bis auf das Alter ändert sich nichts in meinem
Leben. Jeden Tag beobachte ich mal mehr, mal weniger interessante
Leute. Wenn man irgendwo angekommen ist, ist man dann auch an einem
Bahnhof oder hat man einen anderen Ort erreicht?“
Der junge Mann überlegte und zuckte nach einem Moment
mit den Schultern. Dabei sagte er: „Ich weiß es nicht. Saßen wir
denn schon immer in einem Zug? Wie kamen wir überhaupt hierher? Wo
kommen wir weg?“
„Das sind die wichtigen Fragen unseres Daseins.
Niemand kann uns sagen was passiert. Man hatte uns irgendwann eine
Fahrkarte in die Hand gedrückt und dann konnten wir los fahren. Ich
meine mich daran zu erinnern, dass die älteste Erinnerung von einem
Bahnhof stammte. Ich glaube, ich war damals fünf Jahre alt. Zwei
Personen waren bei mir, sie waren älter als ich. Ein älterer Mann
drückte mir meine Fahrkarte in die Hand und sagte: 'Junge, mit
dieser Karte findest du dein Glück – egal welchen Zug du nimmst,
er wird der Richtige sein, wenn du nur auf dein Herz hörst.' Mit den
älteren Personen stieg ich in einen Zug, den sie aussuchten. Sie
erklärten mir alles, was ich wissen musste und es dauerte nicht
lange – es waren vier Bahnhöfe – bis sie den Zug verließen und
mich alleine ließen. In dem Zug blieb ich ziemlich lange. Ich lernte
Menschen in meinem Alter kennen und wir fuhren eine lange Strecke
zusammen. Nur wenige stiegen aus und wählten einen anderen Zug. Je
älter wir wurden, desto weniger wurden wir. Irgendwann fasste ich
dann auch den Entschluss auszusteigen. Ich stieg aus dem Zug aus und
sah den Bahnhof mit völlig anderen Augen. Der Bahnhof an den ich
gekommen war, war anders gewesen. Dieser Bahnhof war besonders. Er
wurde von einer Aura umgeben und ich erinnere mich gerne an diese
Zeit zurück.“, schwelgte der alte Mann in Erinnerungen.
„Haben Sie auch negative Erfahrungen gemacht?“,
wollte der Junge wissen.
Wieder einmal musste der Mann lachen und sagte: „Ja,
auch negative Erfahrungen habe ich gemacht. Ich habe einmal den
falschen Zug gewählt. Ich fuhr ihn etwas mehr als ein Jahr. Ich war
grade 20 Jahre alt geworden und ich sprach am Bahnhof mit einem etwas
älteren Mann. Er erzählte mir von einem besonderen Zug, der
vorbeikommen würde. Ich fragte, was ihn so besonders mache und er
antwortete, dass es das sei, was dort gemacht wird. Natürlich wollte
ich wissen, was sie dort machen, doch der Mann sagte nur, dass dies
niemand so genau wüsste, dass er aber auch in diesen Zug steigen
wollte. Ich fragte woran ich ihn erkennen würde. Er sagte nur, dass
ich es sofort wissen würde. Dann verschwand er und ich setzte mich.
Ich wartete auf den Zug und tatsächlich er kam. Der Zug war wirklich
anders als die anderen. Normalerweise waren die Züge grau und rot.
Dieser Zug war jedoch bunt. Er hatte viele verschiedene Farben. Rot,
gelb, blau, grün, lila und viele weitere Farben. Voller Neugier
setzte ich mich also in den Zug. Zuerst saß ich alleine im Wagon und
dann kamen andere dazu. Sie hatten Essen und Trinken dabei. Jedoch
war es nicht das, was wir normalerweise zu uns nahmen, sondern es war
voll mit irgendwelchen Rauschmitteln. Ich wusste zuvor nicht, was das
ist und was es mit mir machen würde. Diese Mittel machen Dinge mit
dir, das ist unfassbar. Sie machen dein Gehirn kaputt und
manipulieren dich. Sie machen dich kaputt. Ich lernte jemanden in dem
Zug kennen und der holte mich dort schließlich heraus. Ich war nicht
mehr bei klarem Verstand.“
„Von dem Zug habe ich auch schon gehört, aber ich
wurde zuvor gewarnt. Für mich hat alles an einem kleinen Bahnhof
angefangen. Ich weiß nicht mehr, wie alt ich war. Auf einmal war ich
da. Aber anders als Sie war ich alleine am Bahnhof. Niemand war bei
mir. Ich bin durch fast magische Weise in den kleinen Bahnhof
gekommen. Jener Bahnhof hatte auch nur ein Gleisbett und war
menschenleer. Ich setzte mich auf eine Bank und wartete. Ich ließ
die Beine hin und her baumeln und schaute gebannt auf das Gleis. Doch
lange Zeit kam nichts. Bis auf einmal eine Karte vorbeiflog. Und mit
der Karte kam wenig später auch ein Zug. Intuitiv betrat ich den Zug
und fuhr los. Ich saß in einem Abteil mit drei anderen. Niemand
wagte ein Wort zu sprechen. Wir schauten einander nur stumm an bis
ein uniformierte Mann vorbeikam und uns nach unseren Fahrkarten
fragte. Wir zeigten ihm die Karten und er nickte kurz. Dann verließ
er uns wieder. Es dauerte sehr lange bis wir miteinander sprachen.
Als wir allerdings miteinander sprachen, wurden wir sehr gute
Freunde. Doch auch unsere Wege trennten sich schnell voneinander.“
„Hast du schon negative Erfahrungen gesammelt?“
„Na ja... eigentlich nicht. Wenn ich das beurteilen
könnte, würde ich sagen, dass ich eine ganz gute Fahrt hatte.
„Was ist eigentlich dein Ziel?“
„Ich weiß es nicht. Seit dem ich von Ihnen gehört
habe, war es mein Ziel Sie zu finden. Ich wollte es nicht glauben,
dass es Sie wirklich gibt, aber nun bin ich hier. Jetzt habe ich auch
mein Ziel erreicht.“, sagte der junge Mann.
Der alte Mann schmunzelte leicht und sagte: „Nein, das
ist nicht dein Ziel. Das ist mein Ziel. Du weißt nicht, was du
willst. Du bist jung und solltest dein eigenes Ziel finden. Jeder
sollte das Ziel finden, was zu ihm passt und nicht das annehmen, was
man einem aufträgt.“
Noch lange saßen der alte und der junge Mann zusammen
am Bahnhof. Sie schwiegen sich nur an und dachten nach. Irgendwann
war der junge Mann aufgestanden und sagte: „Ich nehme den nächsten
Zug, er wird der Richtige sein. Wenn der Bahnhof Ihr Ziel ist,
sollten Sie sich hier anstellen lassen, vielleicht bekommen Sie dann
auch mehr antworten.“ Sie verabschiedeten sich voneinander und der
junge Mann stieg in einen der Züge. Der alte Mann dachte noch lange
über die Worte des jungen Mannes nach und nahm sich den Rat zu
herzen. Er stand auf und ging zu dem Personal.
Bald gab er Neuankömmlingen ihre erste Karte und
schickte sie auf den Weg des Lebens.
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